Ertränkt die Bilderflut unseren Alltag?

Kritik am Knipsen von allem und jedem gibts schon länger und grade anlässlich des 175-jährigen Geburtstags der Fotografie gleich in (mindestens) zwei großen Publikationen. Das wird zu Recht hinterfragt, aber dennoch regt sich bei mir etwas Widerstand.

Die beiden aktuellen Beiträge monieren allem voran, dass das Ablichten der Realität zum Realitätsverlust führt:

„Ständig fotografieren wir alles und jeden…. Und merken nicht, wie uns die Welt hinter all den Bildern abhanden kommt.“
Arno Frank in der taz

„Nie wurde so viel fotografiert wie in Zeiten des Smartphones. Dadurch verpassen wir so ziemlich alles, was wir eigentlich festhalten wollen.“
Marc Baumann in der SZ

Natürlich ist das eine Gefahr: Wer sich darauf konzentriert, Bilder zu machen, der wird leicht ein Stück weit vom Teilnehmer zum Beobachter. Entscheidend bleibt aber, was wie lange wie sehr im Vordergrund steht – sprich: wie mans macht!

Wenn etwa Arno Frank beklagt „das Risotto wird gepostet, statt es zu genießen“ befindet er sich offenbar in guter (?) Gesellschaft einiger französischer Spitzenköche, denen es sauer aufstößt, wenn Gäste ihr Essen erstmal fotografieren, bevor sie es genießen. Ich bin sofort d’accord, wenn wir hier jemanden im Auge haben, der sich viele Minuten lang rein optisch mit dem Objekt der Begierde befasst, womöglich dabei mit Blitzlichtgewitter Gäste an anderen Tischen aus ihren Träumen reißt und dann erst noch „in Ruhe“ einen passenden Post formuliert – ja, man kanns auch übertreiben.

Doch was spricht dagegen, „mal eben schnell“ den verheißungsvollen Blick auf den eigenen Teller im Bild festzuhalten, bevor man zur Gabel greift? Hier sehe ich nur eine (möglicherweise schnell oder später mit anderen geteilte) erweiterte Vorfreude. Und angesichts der Temperaturen, mit denen bisweilen das Essen auf den Tisch kommt, ist es vielleicht nichtmal schlecht, wenn man eine kurze (!) Weile verstreichen lässt, bevor Zunge und Gaumen zu ihrem Recht kommen.

Allgemeiner meint Frank: „Bei einer Zeichnung oder Notiz wird das Gesehene im Kopf verarbeitet, beim Fotografieren auf ausgelagerten Prozessoren.“ Doch das kann auch genau andersherum sein: Bei einem Spaziergang durch Stadt oder Landschaft kann der „Blick des Fotografen“ auch dazu führen, dass man seine Umgebung bewusster wahrnimmt, statt einfach hindurchzuschlendern. Der Kopf verarbeitet dann das Gesehene besonders intensiv – versucht vielleicht verschiedene Blickwinkel einzunehmen, probiert abweichende Perspektiven. „Jedes Foto ist Abklatsch“ (Frank) stimmt nur bei gedankenlos dahingeknipsten Bildern – bei bewusst angefertigten Aufnahmen entsteht hingegen eine persönliche Interpretation der allgemeinen Realität.

Franks Aussage „Wir sind dazu verdammt, Archivare oder Regisseure eines Alltags zu werden, der nicht wie ein Alltag aussehen darf.“ bleibt mir ebenfalls zu absolut: Ja, wenn wir nur um des schönen Scheins oder Effekts beim Teilen willen, archivieren oder manipulieren, dann ist das mindestens heikel, vermutlich sogar schlecht. Wer aber sagt, dass wir derart handeln müssen? Es bleibt uns selbst überlassen, weiterhin den Alltag zu dokumentieren, wie er ist, um andere daran teilhaben zu lassen oder uns selbst besser erinnern zu können – oder eben im genannten Sinne Regie zu führen, dass wir unsere persönliche Sicht der Dinge betonen. Beides ist völlig legitim.

Dass dabei dennoch schnell eine „digitale Datenmüllhalde [entsteht] – die eigentlich fortwährend kuratiert werden müsste“ (Frank) ist jedoch eine reale Gefahr. Auch hier bleibt aber offen, ob man das a) überhaupt macht und ob es b) dabei zum Selbstzweck mutiert oder vielmehr doch einem tieferen Sinn dient. Dass hat mich an einen meiner Gedanken von 2008 erinnert, der bislang nur als Skizze vorlag – den habe ich jetzt mal zu Ende formuliert.